* 31 *

Die Gringes weilten oben im Torhaus. Wie in jeder Längsten Nacht hatten sie einen Spaziergang auf der Zaubererallee unternommen, waren diesmal jedoch früh zurückgekehrt, weil sich Mrs. Gringe von ihrem Sohn Rupert, der sich die meiste Zeit nur mit Nicko unterhielt, vernachlässigt gefühlt und darauf bestanden hatte, wieder nach Hause zu gehen. Infolgedessen hatten sie die Errichtung des Sicherheitsvorhangs verpasst, was aber nicht weiter schlimm war, da die Gringes ohnehin tiefen Argwohn gegen die Zauberei hegten.
Mrs. Gringe saß in ihrem Sessel und dröselte mit hastigen, gereizten Bewegungen eine gestrickte Socke auf, während Mr. Gringe das kleine Holzfeuer schürte, das sie sich in der Längsten Nacht gönnten. Der Schornstein war kalt und verrußt und wollte nicht recht ziehen, sodass sich das Zimmer mit Rauch füllte.
Rupert Gringe, der mit dem gemeinsamen Spaziergang zur Zaubererallee seine Sohnespflicht wieder für ein Jahr erfüllt hatte, stand an der Tür, um zu gehen. Er hatte eine neue Freundin – die Skipperin einer Porter Fähre – und wollte sich mit ihr treffen, wenn die Abendfähre an der Bootswerft anlegte.
Neben Rupert stand Nicko Heap, den es gleichfalls fortzog. Nicko war nur mitgekommen, weil Rupert ihn darum gebeten hatte. »Wenn Besuch da ist, wird nicht so viel geschrien«, hatte Rupert gesagt. Aber Nicko war nicht nur deswegen mitgekommen. Ein weiterer Grund war, dass er eine innere Unruhe verspürte. Snorri und ihre Mutter waren mit ihrem Boot, der Alfrun, zu einer Fahrt nach Port aufgebrochen, um von dort »eine kleine Strecke aufs Meer hinauszusegeln«, wie sich Snorri ausgedrückt hatte. »In ein paar Tagen sind wir zurück«, hatte sie versprochen. Als er sie nach dem Zweck der Reise gefragt hatte, hatte sie ihm ausweichend geantwortet. Aber Nicko wusste, weshalb sie fuhren – um die Seetüchtigkeit der Alfrun zu erproben. Snorris Mutter wollte in ihre Heimat zurückkehren und ihre Tochter und die Alfrun mitnehmen, und sein Gefühl sagte ihm, dass auch Snorri das wollte. Und wenn er darüber nachdachte, was er möglichst vermied, überkam ihn bei der Vorstellung, dass Snorri fortging, ein Gefühl der Freiheit. Doch in dieses Gefühl mischte sich auch Traurigkeit, und seit Lucy aufgeregt vom Heiraten gesprochen hatte, sehnte sich Nicko danach, einfach zur Werft zurückzukehren. Bei Booten wusste man wenigstens, woran man war, dachte er.
Lucy lächelte ihren Bruder an, der versuchte, sich durch die Tür davonzustehlen. Sie wusste genau, was in ihm vorging. Morgen würde sie die Frühfähre nach Port nehmen. Sie konnte es kaum erwarten.
»Hast du auch ganz sicher einen Platz für ein Pferd gebucht?«, fragte sie Rupert, und zwar nicht zum ersten Mal.
Rupert blickte sie ärgerlich an. »Ja, Lucy, hab ich dir doch gesagt. Die Frühfähre hat zwei Pferdeboxen, und eine bekommt Donner. Ganz bestimmt. Hat Maggie versprochen.«
»Maggie?«, fragte seine Mutter und schaute, hellhörig geworden, von ihrer Socke auf.
»Die Skipperin, Mutter«, antwortete Rupert kurz angebunden.
Mrs. Gringe war nicht entgangen, dass Ruperts Gesicht ein leuchtendes Rot angenommen hatte, das sich mit seiner karottenfarbenen Igelfrisur biss.
»Ach, sie ist Skipperin?« Mrs. Gringe zupfte an einem Knoten, fest entschlossen, ihn aufzubekommen. »Komischer Beruf für eine junge Frau.«
Rupert kannte seine Mutter zu gut, um auf den Köder anzubeißen. Er überging ihre Bemerkung und setzte das Gespräch mit Lucy fort. »Komm morgen früh zur Bootswerft, Lucy. So gegen sechs. Wir ... ich meine, ich werde dir helfen, Donner zu verladen, bevor die Passagiere eintreffen.«
Lucy lächelte ihren Bruder an. »Danke, Rupert. Entschuldige, ich bin im Moment etwas kribbelig.«
»Das sind wir alle«, sagte Rupert. Er drückte seine Schwester, und sie drückte ihn. Sie hatte Rupert nicht oft gesehen in diesen Tagen, und er fehlte ihr.
Nachdem Rupert gegangen war, spürte Lucy, dass die Augen ihrer Eltern auf ihr ruhten. Es war kein angenehmes Gefühl. »Ich sehe mal nach Donner«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe ihn gerade wiehern hören.«
»Mach nicht zu lange«, erwiderte ihre Mutter. »Das Abendessen ist gleich fertig. Schade, dass dein Bruder nicht zum Essen bleiben konnte«, schniefte sie. »Es gibt Eintopf.«
»Hab ich mir fast gedacht«, grummelte Lucy.
»Wie bitte?«
»Nichts, Mom. Bin gleich wieder da.«
Lucy stieg die Holztreppe hinunter und stieß die alte, verwitterte Tür auf, die auf den Weg zur Zugbrücke führte. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge der rauchfreien Schneeluft und ging zu dem alten Stall hinter dem Torhaus, in dem Donner stand. Sie öffnete die Tür, und der Rappe, angestrahlt von der Lampe, die sie in das kleine, hohe Fenster gestellt hatte, sah sie an. Das Weiße in seinen Augen schimmerte. Er scharrte im Stroh, schüttelte die dunkle, schwere Mähne und wieherte unruhig.
Lucy verstand nichts von Pferden und wurde aus Donner nicht recht schlau. Sie hatte ihn gern, weil Simon ihn liebte, aber sie war auch vor ihm auf der Hut. Es waren seine Hufe, die ihr Respekt einflößten. Sie waren groß und schwer, und Lucy war sich nie ganz sicher, was er mit ihnen anstellen würde. Selbst Simon vermied es, sich hinter den Rappen zu stellen, weil er fürchtete, dass er ausschlagen könnte.
Sie näherte sich Donner vorsichtig und streichelte ihm sanft über die Nase. »Dummes altes Pferd, bist den ganzen weiten Weg zu mir gekommen. Simon ist bestimmt sehr traurig, weil du fort bist. Wie er sich freuen wird, dich wiederzusehen, du dummes, altes Pferd ...«
Plötzlich sah Lucy ganz deutlich im Geiste vor sich, wie sie mit Donner von der Porter Fähre ritt und Simon ihr dabei zusah, erstaunt, dass sie das konnte. Sie wusste, dass es möglich war. Sie hatte schon tollkühne junge Männer gesehen, die mit ihren Pferden von Bord über die Rampe getrabt waren, statt sie am Zügel zu führen. So schwer konnte das doch nicht sein. Man musste nur den Laufsteg für die Passagiere hinauf, und für einen Reiter war das eigentlich nicht weit. Dann konnte Simon übernehmen, und sie konnten zusammen zurückreiten. Das würde großen Spaß machen.
Ihrem Tagtraum nachhängend, beschloss Lucy auszuprobieren, wie leicht es tatsächlich war, Donner zu besteigen. Alles andere als leicht, befand Lucy, als sie das Pferd betrachtete. Es war so viel größer als sie, und sein Rücken auf gleicher Höhe mit ihrem Kopf. Wie stieg man auf ein Pferd? Ach ja, dachte Lucy, man brauchte einen Sattel. Mit solchen Dingern für die Füße. Aber sie hatte keinen Sattel. Ihr Vater hatte keinen gefunden, der preiswert genug war, und Donner hatte mit einer dicken Pferdedecke vorliebnehmen müssen, die Lucy sehr gefiel, weil sie mit Sternen bestickt war. Außerdem nützte sie ihm bei der Kälte viel mehr.
Lucy ließ sich nicht abschrecken. Sie war fest entschlossen, Donner zu besteigen. Sie holte eine kleine Trittleiter, die bis zur Heuraufe reichte, und stellte sie neben Donner. Sie stieg hinauf. Oben angekommen, geriet sie kurz ins Wanken, holte tief Luft und schwang sich dann auf den breiten Rücken des Rappen. Donner verlagerte nur ein wenig sein Gewicht, mehr tat er nicht. Er war ein kräftiges Pferd, und Lucy hatte das Gefühl, dass er sie kaum bemerkte.
Sie hatte recht. Donner nahm ihre Anwesenheit kaum zur Kenntnis. Er dachte an jemand anderen – an Simon.
»Verflixt!«, schimpfte jemand irgendwo auf dem Stallboden.
Lucy erkannte die Stimme sofort. »Stanley!«, rief sie und spähte von der Leiter herab nach unten. »Wo stecken Sie?«
»Hier.« Die Stimme klang ziemlich beleidigt. »Ich glaube, ich bin in etwas hineingetreten.« Eine ziemlich beleibte braune Ratte nahm mit angeekelter Miene ihre Pfote in Augenschein. »Das ist nicht sehr angenehm, wenn man keine Schuhe trägt«, klagte sie.
Lucy war ganz aufgeregt – eine Antwort von Simon, und so schnell. Aber Stanley war vollauf damit beschäftigt, seine Pfote zu inspizieren. Je schneller er den Pferdemist loswurde, überlegte Lucy, desto schneller würde sie Simons Nachricht zu hören bekommen.
»Hier«, sagte sie, »nehmen Sie mein Taschentuch.« Ein kleines lila Stoffquadrat mit rosa Tupfen und grüner Spitzenborte schwebte neben Donner nach unten. Stanley fing es auf, beäugte es verwirrt und rieb sich dann die Pfote damit ab.
»Danke«, sagte er, und mit einem überraschend flinken Satz sprang er die Trittleiter hinauf, hüpfte von dort auf Donners Rücken und landete direkt vor Lucy. Er hielt ihr das Taschentuch hin.
»Mmm, vielen Dank, Stanley«, sagte Lucy und nahm es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. »Jetzt tragen Sie mir bitte die Nachricht vor.«
Stanley stand auf und verkündete, sich mit einer Hand an Donners rauer schwarzer Mähne festhaltend, mit seiner dienstlichen Nachrichtenübermittlungsstimme:
»Keine Nachricht erhalten. Der Empfänger war nicht erreichbar.«
»Nicht erreichbar? Was soll das heißen, nicht erreichbar?«
»Nicht erreichbar eben. Nicht anwesend, um die Nachricht entgegenzunehmen.«
»Nun, dann hatte er wahrscheinlich etwas zu erledigen. Haben Sie denn nicht gewartet? Ich habe dafür extra bezahlt, Stanley, das wissen Sie.« Lucy klang verärgert.
»Ich habe gewartet, wie vereinbart«, erwiderte Stanley pikiert. »Und weil Sie es sind, habe ich mir anschließend sogar die Mühe gemacht herumzufragen. Und dabei habe ich herausgefunden, dass es keinen Sinn gehabt hätte, noch länger zu warten. Ich habe gerade noch die letzte Fähre nach Hause bekommen.«
»Wieso keinen Sinn, noch länger zu warten?«, fragte Lucy verwirrt. »Was meinen Sie damit?«
»Dass mit Simon Heaps Rückkehr nicht zu rechnen war. Das haben mir seine Untermieter mitgeteilt.«
»Untermieter? Was für Untermieter? Simon hat keine Untermieter«, sagte Lucy bissig.
»Mit Untermietern meine ich die Ratten, die in seinem Zimmer leben.«
»Simon hat keine Ratten in seinem Zimmer«, entgegnete Lucy leicht empört.
Stanley kicherte. »Aber natürlich hat er Ratten. Jeder hat Ratten. Er hat – oder vielmehr hatte – sechs Familien unter den Fußbodendielen. Jetzt nicht mehr. Sie haben sich davongemacht, als ein widerwärtiges Etwas aufgetaucht ist und ihn mitgenommen hat. Es war reines Glück, dass ich ihnen begegnet bin. Sie suchen sich eine neue Bleibe am Hafenplatz, aber das ist nicht leicht. Die begehrtesten Häuser sind bereits voll bis oben hin mit Ratten. Sie würden nicht glauben, wie viele ...«
»Ein widerwärtiges Etwas hat ihn mitgenommen?«, unterbrach ihn Lucy bestürzt. »Was meinen Sie damit, Stanley?«
Die Ratte zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Hören Sie, ich muss nach Hause und nach meinen Rättlein sehen. Ich war den ganzen Tag fort. Weiß der Himmel, wie es in der Wohnung aussieht.« Damit wollte Stanley nach unten hüpfen, doch Lucy hielt ihn am Schwanz fest. Stanley sah sie empört an. »Unterlassen Sie das! Das ist in höchstem Maße ungehörig.«
»Das ist mir egal«, erwiderte Lucy. »Sie gehen nicht, bevor Sie mir genau gesagt haben, was Sie über Simon wissen.«
Stanley blieb eine Antwort erspart, denn in diesem Augenblick drückte ein Windstoß die Stalltür auf.
Donner hob den Kopf und schnupperte. Dann scharrte er unruhig mit den Hufen, und Lucy bekam ein mulmiges Gefühl – Donner hatte etwas Magisches an sich und machte ihr Angst. Er hatte Simon in den dunkelsten Augenblicken treu zur Seite gestanden und war ihm untrennbar verbunden. Und jetzt spürte er, dass sein Herr in der Nähe war. Und wo sein Herr war, musste auch er sein.
Und so preschte Donner los. Er warf den Kopf zurück, wieherte, und im nächsten Augenblick war er zur Stalltür hinaus und galoppierte, mit den Hufen über das verschneite Kopfsteinpflaster schlitternd, durch die Nacht. Als wäre Lucy nicht mehr als eine Mücke auf seinem Rücken, jagte Donner davon, dorthin, wo sein Herr auf ihn wartete.
Sein Hufgetrappel durchbrach die Stille in den leeren Straßen, die vom Nordtor zur Zaubererallee führten – ebenso wie einige sehr schrille Schreie.
»Anhalten! Anhalten, du blöder Gaul!«